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Das Verhältnis des ICHs des Menschen zu seinem Körper am Beispiel des Sports
von Rudi Zimmerman
Zusammenfassung
Das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper hat sich verändert. Das ICH als zentrale geistige Instanz betrachtet seinen Körper, den es bewegt, nicht mehr respektvoll als etwas Wertvolles, sondern als Werkzeug zur Erbringung von Leistung. Damit verschwimmt die Unterscheidung von lebenden Effektoren, beispielsweise den Beinen, und nichtlebenden körperexternen Effektoren wie dem Auto. Der lebende Körper wird zur Maschine, deren Leistung nicht nur durch Training, sondern zusätzlich durch Dopingmittel verbessert wird.
In meiner Jugend, in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, war Sport als Amateursport definiert, Profisport galt als unsportlich und wettbewerbsverzerrend. Die Olympischen Spiele waren dem Amateursport vorbehalten, wer Geld für seine sportliche Betätigung erhielt oder annahm, wurde von den Olympischen Spielen ausgeschlossen.
Diese Auffassung von Sport hat sich radikal gewandelt und ich weiß nicht, ob diese Wandlung im Denken der Menschenmassen kritisch-philosophisch betrachtet wurde. Deshalb analysiere ich dies hiermit aus Sicht der Philosophie lebender Systeme.
Aus meiner Sicht hat sich das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper, seinem lebenden Körper, verändert. Noch vor 50 Jahren betrachtete der kulturell gesehen westeuropäische Mensch seinen Körper als ein von Gott erhaltene Gabe, die ihm das Leben ermöglichte. Diese Gabe Gottes musste gepflegt und versorgt werden, der Körper war etwas wertvolles, das es zu erhalten galt. Das Individuum betrachtete seinen Körper als wesentlichen Teil seines ICHs, setzte seinen Körper quasi mit diesem ICH gleich. Die religiöse Vorstellung, der Mensch sei nach dem Bilde Gottes erschaffen worden, sei Gottes Werk, führte zu einem respektvollen Umgang des Individuums mit seinem Körper.
Dieser Auffassung der Gemeinschaft der Gläubigen Christen musste nach langen Kämpfen auch die Katholische Kirche Tribut zollen. Die Organisation der Katholischen Kirche hatte traditionell eine ganz andere Vorstellung zum menschlichen Körper. Sie betrachtete den Körper des Menschen als eine Last, die den Menschen mit der materiellen Erde verband, als eine vorübergehende nebensächliche Erscheinung; wertvoll war nur die Seele, die es zu retten galt und der geholfen werden musste, nach dem Tod in das Reich Gottes, in den Himmel, zu gelangen. Auf diesem Denkhintergrund wurden Menschen gefoltert, gequält und verbrannt, weil deren Seele vor der Verdammnis gerettet werden musste.
Die Auffassung vom menschlichen Körper, dessen körperliche Qualen lediglich eine Wiederholung des Kreuzes Jesu Christi war und die ihnen half, das Paradies zu erreichen, wurde von der Bevölkerung, der Gemeinschaft er Christen, nicht geteilt. Die Menschen im christlichen Kulturbereich, und nur über diesen kann ich mich äußern, hatten eine andere, ebenfalls vom Christentum geprägte Auffassung. Nach dieser Auffassung wurde das Paradies nicht ins Jenseits verschoben, sondern das Diesseits war der Ort des Erlebens von Freude und Lust und Aussagen über das Jenseits wurden der Spekulation zugeordnet, die beliebig war und der Durchsetzung der Lustinteressen der Kirchenfürsten diente. Diese misshandelten schließlich nie sich selbst, sondern benutzten ihren angeblichen Glauben dazu, missliebige Kritiker zu ermorden, wie beispielsweise J. Bruno, aber auch Tausende sogenannter „Ungläubiger“, die die Doppelmoral der Kirchenfürsten und deren Missbrauch angeblichen Glaubens zur Durchsetzung ihrer Machtinteressen durchschauten und einfach etwas Glück im Leben suchten, statt im Himmelreich.
Während also die christliche Bevölkerung den menschlichen Körper als Mittel zum Erleben von Glück und Lust betrachtete, ja selbst die Kirchenfürsten ebenso handelten, wurde von den Herrschenden „offiziell“ ein „Glaube“ vertreten, der dies als „Sünde“ geißelte.
Wir sehen jedoch bereits hier, dass das ICH, seinerzeit als „Seele“ bezeichnet, und der Körper des Menschen, der Geist und das Materielle, das Jenseitige und das Diesseits, das Ewige und das Vorübergehende als zwei Kategorien ausgefasst wurde. An beiden hatte das Individuum Anteil. Das Verhältnis beider wurde philosophischen Betrachtungen unterzogen, ohne dass eine allgemein angenommene Überzeugung daraus erwuchs. Die Entdeckung des ICHs im Rahmen der Aufklärung, einer Instanz, die von Fichte als Ausgangspunkt aller Erkenntnis bzw. Wissenschaft gesetzt wurde, das Verhältnis des Individuums zu seiner Umwelt, die Bedeutung der Wahrnehmung und die Relativität und Gebundenheit unseres Denkens an angeborene Fähigkeiten wurden von Kant und anderen diskutiert. Derartige philosophische Überlegungen hatten jedoch zunächst gar keinen Einfluss auf das Handeln der Menschen. Das Denken und Handeln der Menschen wurde von den technischen Neuerungen geprägt, von den Erfolgen der technischen- industriellen Revolution, der Erfindung der Dampfmaschinen, des elektrischen Stroms, der Entdeckung der Bakterien, der Telekommunikation, der Entwicklung neuer Fortbewegungsmittel (Eisenbahn, Auto, Flugzeug usw.). Die Auswirkungen dieser technischen Revolution auf das Leben der Menschen in Westeuropa und deren Auswirkungen auf die Welt, wie die Reinigung des Amerikanischen Kontinents von Indianern durch europäische technisierte Invasoren, die Unterjochung der afrikanischen Neger als Sklaven und die Ausbeutung fremder Kontinente, wie Afrika und Asien, wurden nach meiner Kenntnis philosophisch nicht gewürdigt, weil die sich europäisch geprägte Philosophie grundsätzlich der gestärkten politischen Herrscherklasse und deren ideologischen Vorstellungen unterwarf. Hegel meinte, im idealen Staat zu leben.
Erst Marx gestattete sich eine kritische Würdigung der aktuellen politischen Verhältnisse und die Bedeutung des Geldes und kam zu dem Ergebnis einer Zweiklassengesellschaft. Die herrschende Klasse bezeichnete er als Bourgeoisie (ein Wort, von das niemand schreiben kann), dessen Kennzeichen das Eigentum an Produktionsmitteln ist, und die beherrschte Klasse, denen keine Produktionsmittel gehören, als Proletariat. In Osteuropa wurde dies herrschende weltliche Ideologie und verdrängte die religiöse Ideologie, die auch im übrigen europäischen Kulturbereich an Einfluss auf das Denken der Menschen verlor.
Aus Sicht des Geistigen, des Denkens und der Überzeugungen der Menschenmassen verlor der Glaube an ein Jenseits seine Bedeutung, seinen Einfluss auf das Handeln; die Menschen wurden diesseitsbezogener und wollten Befriedigung ihrer Bedürfnisse in der Realität und nicht in einem vermuteten Leben nach dem Tod. Der wesentliche Wechsel des Denkens zeigt sich in der Bedeutung des individuellen Willens. Nicht mehr das „Dein-Wille-geschehe“ des Vaterunsers ist maßgeblich sondern das „ICH-will“, das, was das Individuum will.
Die Menschen machten sich die Erfindungen, die Technik, zu nutze, um im Diesseits Befriedigung und Erleichterung zu erlangen. Sie forderten und bekamen einen Anteil an den Errungenschaften der Technik. Dieser Prozess ist noch im Gange, auch in anderen Kulturen wird Teilhabe an diesen Errungenschaften verlangt. Auch die Wissenschaften haben weitere Fortschritte gemacht. Die Evolutionstheorie, die seit Darwin eine Entwicklung der Arten hin zum Menschen erkannt hat, hat sich entwickelt, die Bedeutung der genetischen Programmierung des Äußeren und des Verhaltens von Pflanzen und Tieren (und des Menschen) ist erkannt, die hirnexterne Datenspeicherung, die den Menschen zu dem macht, was er ist, hat sich vom Buchdruck zur Computertechnik entwickelt.
Und wie hat sich die Sicht des Menschen auf seinem Körper dadurch verändert, das Verhältnis von Geist und Körper?
Das Individuum in seiner Gesamtheit ist in der modernen westlichen Gesellschaft oberflächlich betrachtet zum Konsumenten geworden. Es hat Teil an den Errungenschaften der Technik und macht sie sich zunutze. Das Erleben weltlicher Genüsse hat mehr Bedeutung als die Suche nach geistiger Betätigung. Das Geistige, das Jenseitige ist völlig aus dem Blickfeld entschwunden. Dies ist der phänomenologische Eindruck beim Blick auf die Gegenwart.
Die Philosophie lebender Systeme hat als einzige Philosophie der Gegenwart das Verhältnis des Individuums zu seinem Körper eingehend bestimmt, wobei sie Kategorien der Psychoanalyse verwendet.
Das Ich wird hierbei als die zentrale steuernde Instanz des Individuums betrachtet, die auch die Identität des Individuums ausmacht. Als „Instanz“ sie nichts Materielles, sondern etwas Geistiges, das geistige Zentrum der Persönlichkeit. Sie wird vom Nicht-Ich streng unterschieden, sie ist Träger der Geistes und Schöpfer der Wahrnehmungen (sehen, hören, schmecken, riechen, tasten). Alles Materielle ist ihr Außenwelt, aus der sie mittels der Sinnesorgane und Hirn Daten zur Verfügung gestellt bekommt, die sie in Wahrnehmung, also etwas Geistiges, umwandelt.
Aus Sicht dieser geistigen Instanz ist der eigene materielle Körper des Menschen bereits Außenwelt. Hinsichtlich der Außenwelt wird von ihr eine Unterscheidung getroffen in Mein und Nichtmein (fremd). Aus Sicht des ICHs wird die Außenwelt zweistufig: zunächst der lebende Körper als zum Selbst gehörige verfügbare materielle Welt, hinter dieser Grenze die eigentliche Außenwelt, die unabhängig vom eigenen Denken existiert. Zur eigenen Person (zum MEIN) gehörig wird jedoch aus Sicht der Philosophie lebender Systeme alles das erlebt und unbewusst betrachtet, über das Verfügungsgewalt besteht. Wobei die Objekte der Außenwelt „an sich“ nicht erkennbar sind (Kant), sondern nur in ihrer Bedeutung für das ICH erkannt werden. Für dieses Erleben des Mein ist also nicht entscheidend, ob etwas zu meinem lebenden Körper gehört oder nicht (also körperextern ist), sondern ob darüber Verfügungsgewalt besteht.
Hier werden also psychoanalytische Begriffe und ein juristischer Begriff in die Philosophie integriert.
Zu dem, was das Individuum als Mein erlebt gehört danach nicht nur der lebende Körper, soweit Verfügungsgewalt über ihn besteht, sondern auch körperexternes Materielles, nämlich Geld und materielles Eigentum. MIR gehört nicht nur mein Arm, sondern auch das Werkzeug, das Ich mittels des Arms bewege, das Auto usw.. Der Mensch wird somit einerseits materiell vergrößert, so dass körperhaftiges und körperexternes zwei Kategorien des Mein sind, andererseits werden bislang als eigen angenommene Vorgänge als fremd definiert.
Dies betrifft den Bereich des lebenden Körpers, der autonom funktioniert.
Die Atmung und die körperinternen Prozesse der Aufnahme und Abgabe von Stoffen, der sogenannte Stoffwechsel sind Vorgänge, auf die ICH zunächst keinen Einfluss habe. Krankheitsprozesse sind Auseinandersetzungen meines Körpers mit körperexternen Einwirkungen, die diesen Stoffwechsel bedrohen und werden ebenfalls automatisch gesteuert. Das, was ICH nicht bewusst steuern kann, darf ich als fremd betrachten. ICH habe also keine Schuld, wenn ICH krank bin. Mein Körper setzt sich mit schädigen Umwelteinflüssen, mit Bakterien, Viren oder Giften ohne meine bewusste Steuerung auseinander.
Diese Betrachtungsweise scheint mir die allgemein übliche der heutigen Zeit zu sein, ohne dass dies von den einzelnen Individuen so gesehen wird. Der eigene Körper wird als eine Art Werkzeug betrachtet, das MIR zur Realisierung von Wünschen meines ICHs zur Verfügung steht. Es wird so gehandelt. Und entscheidend ist das Handeln der Menschen, nicht das bewusste Denken.
Und diese Handeln zeigt sich beispielhaft im Sport.
Dem modernen Sportler ist der lebende Körper Mittel zur Erreichung von Erfolg, der hier sportlich definiert wird. Der Sportler will der beste, der schnellste, der stärkste usw. sein und der Körper ist das Werkzeug dafür. Der Körper wird funktionalisiert zur Erlangung von Lob und Geld. In allen anderen Bereichen ist es längst so, dass der Körper Mittel zum Geldverdienen geworden ist, der Sport hat hier lediglich nachgezogen. Im Unterschied zum sonstigen Arbeiten verdient der Sportler jedoch nur, wenn er Spitzenleistungen erbringt.
Aus dieser inneren Haltung heraus, dass der Körper lediglich ein Besitz des Individuums ist, der für bestimmte Zwecke verwendet wird, handelt nicht nur der Spitzensportler, sondern der gewöhnliche Mensch, der „Durchschnittsbürger“. Die Philosophie lebender Systeme formuliert nur die Prinzipien, nach denen der Mensch allgemein handelt.
Es ist nun nicht nur so, dass das Individuum seinen eigenen Körper zur Erreichung bestimmter Zwecke dienstbar macht, sondern der Körper des Mitmenschen wird ebenso betrachtet.
Der von Marx als Produktionsmittelbesitzer charakterisierte Bourgeois verwendet den Arbeiter (den Proletarier) als Werkzeug zur Optimierung seiner Produktion, aber auch der Arbeiter bezahlt seinen Mitmenschen, zum Beispiel den Klempner oder den Flugzeugkapitän dafür, dass er das tut, was er selbst erreichen will: das Funktionieren des Wasserhahns oder das Erreichen eines Ferienziels.
Nicht nur der eigene Körper, sondern auch der Mitmensch wird funktionalisiert.
Die Philosophie lebender Systeme betrachtet daher das Individuum als einen Dominator und einen Effektor in einer Person. Effektor ist das Individuum, wenn im Interesse eines anderen gehandelt wird, der die Handlungsziele bestimmt, Dominator ist das Individuum dann, wenn es selbst Handlungsziele festlegt und entsprechend eigenem Entschluss handelt. Dies vor allem immer dann der Fall, wenn das Individuum Geld ausgibt. Geht es einkaufen, so macht es mit seinen Kaufentscheidungen die Produzenten der gekauften Waren und die Personen, die es in den Supermarkt gebracht haben und dort verkaufen, zu seinen Effektoren.
Die Beziehungen der Menschen werden durch diese Sichtweise zu Dominator-Effektor-Beziehungen.
Der Sportler benutzt seinen Körper als Effektor zur Erreichung von Höchstleistungen, ist insofern Dominator seines Handeln und erreicht sein Ziel nicht nur durch Training, sondern auch durch Doping, der sogenannte „Konsument“, der seinen Fernseher einschaltet um eine Sportveranstaltung zu betrachten, macht damit die Sportler zu seinen Effektoren, die ihn unterhalten.
Der Philosophie geht es bei all dem nicht darum, etwas moralisch zu beurteilen, es geht hier nicht um Gut oder Böse, sondern es geht um eine andere, eine neutrale Sichtweise, die die Philosophie lebender Systeme vermitteln möchte.
Rudi Zimmerman, Mai 2007
Nachdruck nur mit Genehmigung des Verlages
Kommentar an Philosoph Rudi Zimmerman
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