Die Wahrnehmung
Beispiel einer Wahrnehmung:
Ich gehe mit Nordic-Walking-Stöcken einen Feldweg entlang. Es ist noch dunkel, der Tag sollte jeden Moment erwachen.
Plötzlich vibriert mein Körper. Stromimpulse durchschießen Arme und Beine. Pulsierend wie bei einem Orgasmus. Der Körper erschaudert, eine Mischung aus Angst und Erregung. Dann höre ich ein Schnaufen, eine Art Fauchen. Ein nahes Geräusch wie von einem Drachen, der Feuer spuckt. Nun sehe ich links neben mir ein Pferd. Ich erlebe noch für etwa 5 Meter Gehstrecke die abnehmenden Erregungswellen im Körper, werde wieder ruhig.
Was war da passiert?
1. Erzeugung von Wahrnehmung
Wahrnehmung ist zunächst ein körperliches Geschehen. Alle Informationen aus der Umgebung des Körpers, die über die Sinnesorgane in den Körper gelangen und auch die Informationen aus dem Körperinneren, werden zunächst in den Thalamus geleitet, das "Tor zum Bewusstsein". Sie werden hier zusammengefasst, verarbeitet und “verdichtet” (wie es die Psychoanalyse nennt), bevor sie weitergeleitet werden. Die Weiterleitung geschieht in zwei Richtungen.
Die eine geht in die Großhirnrinde, beispielweise in der Sehrinde oder die Hörrinde. Bei diesem Umschaltvorgang im Thalamus wird die Informationsmenge, die in Bits quantifizierbar ist, um Zehnerpotenzen reduziert. Die bewusste Wahrnehmung, die in der Rinde des Großhirns erzeugt wird, ist also bereits von unbewussten Hirnanteilen filtriert worden, bevor unser ICH, das geistige Zentrum des Menschen, eine Wahrnehmung (Hören, Sehen, Riechen usw.) bewusst erlebt.
2. Erzeugung von Gefühlen
Über den Thalamus und den Hypothalamus wird zusätzlich das Hormonsystem des Körpers kontrolliert, so dass die im Unbewussten eingegangenen Informationen über den Weg Thalamus --> Hypothalamus --> Hypophyse umgehend in Hormonausschüttungen umgesetzt werden. In der Anhangdrüse des Hypothalamus, der Hypophyse, sind sogenannte "Releasingfaktoren" gespeichert, Hormone, die über das Blut in alle anderen Hormondrüsen transportiert werden und dort die Ausschüttung der Hormone steuern, die Körperaktivität über den Stoffwechsel (Aufgabe der Schilddrüse), den Blutdruck (Nebennierenmark) und die Bereitstellung des “Brennstoffs” Glucose für die Zelltätigkeit (Nebennierenrinde) regulieren. Diese hormonelle Umstellung des Körpers erfolgt parallel zur Informierung des Großhirns. Die bewusste Wahrnehmung in der Großhirnrinde und damit einhergehenden körperlichen Empfindungen sind zwei Seiten eines Vorgangs. Es ist also nicht so, dass unsere Wahrnehmung zu körperlichen Veränderungen (Emotionen) führt, sondern über den Thalamus geht der Input in zwei Richtungen weiter, nämlich in Richtung Wahrnehmung und in Richtung Emotion. Wahrnehmung und Emotion sind 2 Reaktionen, die gleichzeitig ablaufen und vom Thalamus gesteuert werden.
3. Die Handlungskontrolle
Vor der Ausführung gezielter Bewegungen erhält der Mensch allerdings die Möglichkeit, Handlungsimpulse bewusst zu unterdrücken. Der Output hat nur einen Ausgang, nämlich von der alpha-motorischen Vorderhornzelle des Rückenmarks zur Muskulatur. Das bewusste Denken des Menschen erhält an dieser Stelle die Möglichkeit, eine Entscheidung gegen eine durch unbewusste Mechanismen vorbereitete Aktion zu treffen, "nein" zu sagen.
Folglich habe ich im obigen Beispiel zunächst eine Erregung im Körper verspürt und ein Gefühl des Schrecks und der Furcht erlebt. Aus welcher Richtung dies kam, darüber hatte ich zunächst keine Information. Mein Hirn wurde dann zunächst über die akustische Wahrnehmung, das Schnaufen, informiert. Nun war die Richtung klar, aus der die vermeintliche Bedrohung kam. Gleichzeitig wurden Assoziationen aus dem Gedächtnis ins Bewusstsein geholt, die die körperlichen und akustische Wahrnehmungen erklären könnten. Anschließend kontrollierte das Großhirn durch eine leichte Drehung des Kopfes und Vergewisserung über die optische Wahrnehmung, dass es ein für mein Überleben ungefährliches Pferd war, das mich erschreckt hatte. Beruhigung trat ein.
Es handelt sich bei dem beschriebenen Vorgang um ein Gemisch von Wahrnehmung im engeren Sinn, nämlich der Umwandlung von Materiellem in Geistiges in der Großhirnrinde, und dem, was als “Erleben” bezeichnet wird. Während das Erleben etwas Materiell-körperliches darstellt, besteht der Akt der bewussten Wahrnehmung in der Transformation des Körperlichen in Geistiges. Dieses Geistige bezeichnet Freud als “psychische Repräsentanz”.
Rudi Zimmerman |