Die Bedeutung der Atmung
In östlichen Entspanungsverfahren genießt die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Atmung einen hohen Stellenwert. Inzwischen ist dieses Wissen, dass die Atmung eine Bedeutung hat, die über die Sicherung des Überlebens hinausgeht, auch im westlichen Kulturbereich angekommen. Aber was ist das, das den Vorgang der Atmung zu etwas Besonderem macht?
Über die Lungen tauscht der Mensch – wie andere Tiere – gasförmige Materie mit seiner Umgebung aus.
Vor allem nimmt er bei der Einatmung Sauerstoff auf und reinigt damit aus der Sicht der Pflanzen die gemeinsam genutzte atmosphärische Luft.
Der Mensch atmet aber auch aus. Und bei der Ausatmung reinigt der Mensch sein Blut dadurch, das gaslösliche Blutbestandteile in die Außenwelt überführt werden, die der Mensch nicht mehr benötigt. Die Ausatmung ist also ein Reinigungsvorgang – ähnlich wie die Urinabgabe. Der atmende Mensch reinigt sich bei der Ausatmung.
Die Atmung ist allerdings lediglich der letzte Schritt dieses Vorgangs. Die Reinigung des Blutes schafft dort Platz für neuen Abfall der arbeitenden Körperzellen. An sich beginnt der Reinigungsvorgang damit, dass die Millionen oder die Milliarde Körperzellen ihren Abfall in das sie umgebende Körperwasser abgeben, das von dort ins Blut überführt und durch die Tätigkeit des Herzens und der Blutgefäße in die Lunge (die wasserlöslichen Substanzen in die Nieren) transportiert wird. Der Austausch gaslöslicher Materie über die Lunge ist zeitlich und denkerisch überschaubarer als der Austausch wasserlöslicher Materie mit der Umgebung durch das Trinken und Pullern, so dass sich die Atmung besser dazu eignet, die Aufmerksamkeit auf den Materieaustausch zwischen Körperinnerem und Körperäußerem zu richten. Die denkerische Überschaubarkeit hängt damit zusammen, dass es das gleiche Organ ist, über das die Aufnahme und die Abgabe von Materie vollzogen wird, während es beim Trinken über den Mund und die Urinausscheidung über die Nieren verschiedene Organe und Körperöffnungen sind, über die der Austausch erfolgt.
Bei der Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Atmung wird jedoch häufig ein wesentlicher Punkt übersehen, auf den ich an dieser Stelle explizit hinweisen möchte:
die Atmung ist an eine Sinnesorgan gekoppelt, ähnlich wie die Aufnahme flüssiger und fester Nahrung über den Mund. Nie Naseneinatmung erfolgt über das Sinnesorgan für die Geruchswahrnehmungen. (Die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme durch den Mund als Sinnesorgan der Geschmackswahrnehmungen.)
Über die Einatmung wird also nicht nur ein Substanz aufgenommen, die zur Energieproduktion erforderlich sind, nämlich der Sauerstoff, sondern es werden auch alle anderen gaslöslichen Substanzen derAußenluft vom Sinnesorgan für den Geruch registriert. Die Einatmung vermittelt also auch einen olfatorischen Eindruck von der Umwelt. Deshalb hat auch eine Meditation an freier frischer Luft eine ganz andere und bessere Wirkung als eine Meditation in einem geschlossenen Raum. Erfolgt die Atmung beim Laufen, so empfehle ich auch beim Laufen an frischer Luft, die Augen zwischendurch zu schließen. Der Körper, der der Verarbeitung optischer Reize durch das Schließen der Augen enthoben ist, kann sich dann auf seine Geruchswahrnehmung konzentrieren, weil ihm nun diese als "Esatz" für das Sehen zur Verfügung steht. Diese Orientierung durch den Geruch stellt nicht nur ein gewisses Training für diese Art der Wahrnehmung dar und verschafft neue Geruchserlebnisse, sondern sie verschafft demLäufer auch einen Eindruck von der Steuerung menschlicher Bewegungen und menschlichen Verhaltens durch Sinneseindrücke.
Der Läufer kann sich auf diese Weise in eine Biene hineinversetzen und erleben, wie der Flug der Biene von den Gerüchen gesteuert wird, die in der Luft schweben. Man sollte allerdings zwischendurch auch kurz die Augen öffnen, um nicht in einem Misthaufen zu landen, wie es mir einmal ergangen ist, denn dieser gibt sehr intensive Gerüche ab, die sehr anziehend sein können.
Die anziehende Wirkung von Gerüchen findet sich insbesondere im Sexualbereich. Einzeln lebende zweigeschlechtliche Tiere (aber auch andere, wie der Mensch) orientieren sich bei der Partnersuche auf die Geruchswahrnehmung, wenn sie die Fährte des Geschlechtspartners aufehmen. Selbst beim Menschen bewirken bewusst nicht einmal wahrnehmbare Substanzen eine Verhaltensänderung. Unbewusste Wahrnehmung von Pheromonen lassen die Trägerin derartiger gasförmiger Substanzen als sexuell attraktiv erscheinen und lösen Balzverhalten aus. Allgemein bekannt ist natürlich, das optische Wahrnehmungen, wie die Ansicht bestimmter sexueller Schlüsselreize (Busen, Po usw.) sexuelles Verhalten auslösen, so dass der Wahrnehmende zu balzen beginnt, wie man es im Tierreich nennen würde. Beim Menschen spricht man dabei vom "Anbaggern" oder benutzt andere Formulierungen, um den Vergleich menschlichen Verhaltens mit dem der Tiere zu vermeiden. Die Benutzung technischer Begriffe werden zur Abwehr der Tatsache, dass der Mensch biologisch ein enger Verwandter des Schimpansen ist, gern verwendet.
Der Wahrnehmung olfaktorischer Reize kann sich der Mensch weniger gut entziehen wie der Wahrnehmung optischer Reize. Er kann bewusst die Augen schließen zur Vermeidung optischer Wahrnehmung, aber er kann nicht die Nase schließen, weil er in der Regel durch die Nase atmet und weil dieser Vorgang lebenswichtigt ist. Ohne Sauerstoffzufuhr ist der Mensch in etwa 5 Minuten tot und wird so zum Nährstofflieferanten von Destruenten (das ist ein Oberbegriff für Kleinstlebewesen im Erdreich, die bei der Zerzetzung organischen Materials in der Erde eine große Rolle spielen).
Die Atmung dient also nicht nur dem Stoffautausch zwischen Innenwelt und Außenwelt des Menschen, sondern auch der Aufnahme von Geruchsinformation. Denn die die Geruchsnerven in der Nase werden von gasförmig auftretenden Substanzen der Luft – wie die Endigungen der Sehnerven im Augenhintergrund von den elektromagnetischen Wellen der Außenwelt – gereizt und wandeln wie diese ihre Reizung in elektrische Impulse der Nerven um, und diese elektrischen Impulse nimmt das Zentralnervensystem zum Anlass, daraus Wahrnehmungen zu konstruieren. Reizung des Sehnerven führen dabei zur Erzeugung von bewusst wahrgenommenen Filmen und Reizung der Geruchsnerven zur Wahrnehmung von Gerüchen und dem Erleben entsprechender Gefühle.
Die Denn das, was bei der Nasenatmung an Gerüchen wahrgenommen wird oder beim Sehen als Film wahrgenommen wird, ist stets nur die eine Seite des Ganzen, nämlich die bewusste (oder bisweilen, wie gezeigt, unbewusste) Wahrnehmung. Wahrnehmung ist also nie ein isolierter Vorgang, sondern ein Vorgang, der parallel zur Wahrnehmung mit der Erzeugung von Gefühlen verbunden ist. Und so führt auch die Geruchswahrnehmung, die mit dem Atmen verbunden ist, zur Auslösung von Gefühlen.
Bewusst Atmen heißt also auch, die mit der Atmung auftretenden Gefühle zu beachten – was allerdings nicht bedeutet, das zu tun, was einem diese Gefühle nahe legen.
Rudi Zimmerman
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