Wie man heute, am 27.10.2012, der Zeitung entnehmen kann, ist das kleine Mädchen namens "Chantal" von seinen drogenabhängigen Pflegeeltern mit Drogen zu Tode gepflegt worden.
Fest steht: das Jugendamt gab das Kind zu drogenabhängigen Pflegeeltern. Dass eine Drogenabhängigkeit eine schwere psychische Krankheit ist, weiß jeder Mitarbeiter des Jugendamtes. Dass eine Substitution des Heroins mit Methadon oder anderen Mitteln keine Heilung ist, weshalb es auch “Substitution” genannt wird, ist ebenfalls bekannt. Unbekannt war mir bisher, dass es den Mitarbeitern des Jugendamtes gestattet ist, Kinder zu psychisch Kranken zu geben. Vermutlich ist das preiswerter als eine Heimunterbringung. Dass Drogenabhängige dieses Betreuungsgeld zur Finanzierung ihres sogenannten “Beikonsums” benutzen, ist jedem klar, der einmal Drogenabhängige zu behandeln versucht hat. Chantals Pflegeeltern werden sich das Methadon nicht auf dem Schwarzmarkt besorgt haben, sondern es von ihrem Arzt verordnet bekommen haben. Allenfalls verkauft der Drogenabhängige das Methadon auf dem Schwarzmarkt, um sich dafür Heroin zu besorgen. Ein Substitutionsarzt muss keine psychiatrische Erfahrung haben – wenn er diese hätte, würde er gar kein Methadon verordnen – er benötigt lediglich eine Zulassung für die Verordnung von Substitutionsmedikamenten von der Kassenärztlichen Vereinigung und die Ethikkommission der Ärztekammer muss jeden Fall genehmigen (in Berlin, vermutlich wird es in Hamburg ähnlich sein). Nach meiner Erfahrung wäre dies nicht der erste Fall, in dem die Ethikkommission einen solchen Behandlungsantrag ohne ernsthafte Prüfung durchwinkt. So kenne ich in Berlin einige Fälle, in denen diese sogenannte “Ethikkommission” Substitutionen mit Methadon (oder Polamidon o.a.) genehmigt hat, obwohl die von ihr selbst definierten Voraussetzungen gar nicht vorhanden waren. In den mir bekannten Fällen lag gar keine Drogenabhängkeit vor, sondern es handelte sich um psychisch Kranke – in meinen Fällen waren es schizophrene Patienten, die festgestellt hatten, dass Heroin ihre psychotischen Symptome positiv beeinflusst. Weil Ihnen die Schwarzmarkpreise für Heroin zu teuer waren, stellten sie sich bei Substitutionsärzten als Drogenabhängige vor und bekamen problemlos Methadon. Das ging auch so lange gut, bis sie irgendwann einmal – zusammen mit den Psychopharmaka ihres behandelnden Psychiaters - eine tödliche Überdosis einnahmen. Manchmal hatten die Toten noch Angehörige, die sich um sie gekümmert hatten – was relativ selten der Fall ist – und die eine Anzeige gegen den Substitutionsarzt machten. Derartige Fälle kamen dann zu mir zur Begutachtung der Frage, ob der Arzt einen Behandlungsfehler gemacht hatte oder “unterlassene Hilfeleistung” begangen haben könnte. Wenn ich diese Frage in meinem Gutachten Bejahte, hatte das meines Wissens nie irgendwelche Konsequenzen, ich wurde jedenfalls nie in einem derartigen Fall zur Erstattung eines mündlichen Gutachtens in eine Hauptverhandlung geladen. Die Pflegeeltern von Chantal waren also nicht nur dem Jugendamt bekannt, sondern sie waren mindestens auch dem Arzt oder den Ärzten bekannt, die ihnen das Substitutionsmittel gaben. Und nicht nur das. Bei einer derartigen Substitution ist (in Berlin) auch zwingend eine psychosoziale Begleitbehandlung vorgeschrieben. Der Arzt hat unregelmäßig zu prüfen, ob ein Beikonsum betrieben wird. Ist der sogenannte “K-Urin” (Kontrollurin) positiv, enthält er also Abbauprodukte von Stoffen, die gern zusätzlich zur Erzielung von Rauscherlebnissen genommen werden, muss die Behandlung abgebrochen werden. Ich habe des Öfteren erlebt, dass sich der Arzt über diese Vorschrift hinwegsetzt, weil ihm natürlich seine Einahmen wichtiger sind, als das Wohl seiner Patienten. Aber offensichtlich haben im Fall Chantal auch die Personen versagt, die die psychosoziale Betreuung der Pflegeeltern von Chantal übertragen bekommen haben – falls die Substitution “lege artis” durchgeführt wurde. Die verschachtelten und verzweigten Zuständigkeiten in unserem Gesundheitssystem (und in anderen staatlichen Systemen) haben einen fundierten Sinn: sie erlauben es jedem Agenten des Staats, die Verantwortung für eine Fehlentscheidung immer auf einen anderen Mitarbeiter zu schieben. Und so werden wohl auch für den Tod der kleinen Chantal allenfalls die Pflegeeltern verantwortlich gemacht werden. Die Verantwortlichen für die 21 Toten auf der Loveparade in Duisburg sind ja auch immer noch in Amt und würden, trotzdem sie unter Missachtung von Vorschriften Genehmigungen erteilt haben. Da wird Hamburg wegen eines toten Kindes sicher keinen Verantwortlichen im Staatsdienst haftbar machen und zur juristischen Verantwortung ziehen.
Rudi Zimmerman, gelernter Psychiater, praktizierender Webphilosoph |