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Die normale Schuldreaktion
Das natürliche schlechte Gewissen und seine Abwehr durch den Straftäter und die Gesellschaft als Erklärungsmodell für die Zivilisation
von Rudi Zimmerman
Zusammenfassung
Zimmerman postuliert anhand eines Fallbeispiels eine normale („physiologische") Schuldreaktion des psychisch gesunden Menschen. Tötet der Mensch Mitmenschen, tritt ein schlechtes Gewissen auf, ein Schuldgefühl. Der Täter erinnert sich an die Qualen der Opfer, nimmt ihre Schreie in der Erinnerung wahr und leidet unter Verfolgungsängsten. Diese Symptome ordnet die Medizin der Depression zu und macht somit aus einer normalen Reaktion eine Krankheit. Ethnologisch, soziologisch, psychologisch und philosophisch wird der Mensch im "Urzustand" als triebgesteuertes Wesen betrachtet, dem das Schuldgefühl sekundär als Lernvorgang mittels Religion und Gesetzen vermittelt wurde. Das hier angeregte Umdenken wirft ein neues Licht auf die Entstehung von Religion und Zivilisation, auf die psychoanalytisch ungeklärte Umwandlung von Angst in Schuldgefühl und auf die psychischen Folgen von Tötungshandlungen im Krieg auf den gesunden Soldaten. Das Schuldgefühl hat wie andere Gefühlsqualitäten, z.B. Angst oder sexuelle Lust, eine biologische Grundlage und die Erfindung von Göttern und Religionen dient lediglich der Schuldprojektion auf die späteren Opfer. Sinn des "Gottes" ist die Reduzierung der Schuldreaktion nach der Ermordung von Mitmenschen anderer Ethnie.
1. Die medizinisch bisher nicht beschriebene "physiologische Schuldreaktion"
1.1. Die offizielle Darstellung der Herkunft von Schuldgefühl
In der westlichen Wissenschaft herrscht Konsens über die Theorie, dass die Entwicklung von Zivilisation Folge einer Triebeinschränkung ist. Schon der Philosoph Thomas Hobbes (1651) beschrieb den Menschen im "Urzustand" als eine Art wildes Tier, das zügellos seine (sexuellen und aggressiven) Triebe auslebte und diese erst durch die Strafandrohung eines herrschenden Regimes zügeln lernte. Auch die Psychoanalyse bestätigt diese Hypothese. Freud betrachtet das im Über-Ich verankerte Gewissen als „direktes Erbe“ des Ödipuskomplexes (Freud 1924, 351). Triebbeherrschung wird hiernach lediglich als Folge der Strafandrohung der Erzieher (der Kastrationsdrohung des Vaters) angesehen, was Reik, Alexander und Staub übernahmen, die sich als Psychoanalytiker speziell mit dem Strafrecht beschäftigten. Letztere meinen, der Mensch komme als kriminelles Wesen auf die Welt (Alexander & Staub 1928, 232) und Triebverzicht werde nur aus Angst vor Vergeltung geleistet (ebenda, 242). Reik beschreibt die Angst, vom Vater gefressen zu werden, als den "Kern der Gewissensangst, der späteren Angst des Ichs vor dem Über-Ich." (Reik 1925, 109). Allerdings spricht Reik auch vom Unbewussten, das seine seine eigenen Gesetze aus der "Kindheit der Menschheit" übernommen habe (Reik 1925, 129), was auf den Mitschöpfer der Anthropologie, Lewis H. Morgan verweist, dessen Theorie über diese "Kindheit der Menschheit" (Morgan 1891), die eine kannibalistische Entwickungsphase einschließt, die auch von Friedrich Engels übernommen wurde (Engels 1884). Auch aktuelle soziologische Zivilisationstheorien (besonders Elias, 1939) zeigen für die Kulturentwicklung der Neuzeit auf, dass zunächst eine gesellschaftlich erzwungene Triebeinschränkung ("Höflichkeit") stattfand, die sekundär zur Entwicklung von Kultur führte.
1.2. Die Unstimmigkeiten dieser Darstellung
Dieser wissenschaftliche Konsens wird jedoch bereits von der Tatsache der endogenen Depression in Frage gestellt. Die Erforschung ihrer biochemischen Grundlagen zeigt, dass schlechtes Gewissen, Schuldgefühl und Strafbedürfnis biochemisch durch Körperfehlfunktionen hormoneller Art hervorgerufen werden können (z.B. Serotoninmangel). Das würde bedeuten, dass primär eine genetisch-chemische Bereitschaft für ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühl vorhanden wäre und gesellschaftlichen Strafmaßnahmen sich ein biologisch präformiertes Gefühl zu nutze machen, um Triebunterdrückung zu erreichen und aufrecht zu erhalten. Zweitens müsste, wenn die Theorie der primären ungezügelten Triebbefriedigung und sekundären Anerziehung von Schuldgefühlen, Ritualen und Religion richtig wäre, das schlechte Gewissen eines Straftäters abhängig sein von dem Ausmaß der triebeinschränkender Maßnahmen des Vaters (der Erziehungspersonen). Ich habe während meiner 30jährigen Berufserfahrung mit Straftätern (und Geisteskranken) jedoch immer wieder das Gegenteil erlebt: Gewalttäter haben nach dieser Erfahrung in der Regel keine triebeinschränkende Erziehung genossen, sondern waren eher verwahrloste Kinder. Sie dürften, wenn diese Theorie richtig wäre, also kein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühl haben. Dies trifft jedoch nur in Ausnahmefällen zu, nämlich bei psychisch auffälligen gefühlskalten Tätern. Der psychisch gesunde Schwerkriminelle verfügt jedoch erfahrungsgemäß über die Fähigkeit, Schuldgefühl zu entwickeln, hat ein Strafbedürfnis und hat insbesondere einen Wunsch nach Wiedergutmachung der Tat. So begutachtete ich einen Mörder, der in seiner Zelle versuchte, aus Vogeleiern mit Hilfe einer Lampe (Wärme) Küken auszubrüten, was mir als Beispiel für diesen Wiedergutmachungswunsch des psychisch gesunden Mörders in Erinnerung blieb.
1.3. Meine Gegenhypothese: Schuldgefühl ist eine angeborene Reaktionsweise und ihre Konsequenzen
Ich vertrete hier die Gegentheorie, dass nämlich schlechtes Gewissen und Schuldgefühle eine natürliche physiologische (=normae) Tatfolge beim psychisch gesunden Menschen sind, der einen Menschen getötet hat, und zeige dies anhand eines Falles von extremer Grausamkeit. Ich folge damit dem Arzt Konrad Lorenz, der u.a. in seinem Klassiker "Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit" von einem angeborenen Schuldgefühl sprach (Lorenz 1973, 66, 72, 78). Allerdings begründete er dies als Tierverhaltensforscher nicht. Diese Theorie eines natürlichen Gewissens, das angeboren und nicht anerzogen ist, wirft auch ein neues Licht auf die Entwicklung des Urmenschen zum Kulturmenschen. Wäre nämlich das schlechte Gewissen eine natürliche Reaktion auf die Begehung grausamer Taten, kann die Entwicklung von Religion und Kultur als natürliche Folge des Kannibalismus in der "Kindheit der Menschheit" interpretiert werden, die der Vermeidung von Schuldgefühl dient. Die Begründung für die Notwendigkeit von religiösen und staatlichen Sanktionen, ohne Strafandrohung würden alle Menschen ihren Tötungsimpulsen freien Lauf lassen, wäre hinfällig. Religion würde dann als Maßname entlarvt, die der Vermeidung des gesunden schlechten Gewissens dient und damit die Tötung des Fremden erleichtert.
2. Eine reale Lebensgeschichte: Verbrennung und Erschießung Unschuldiger im Bürgerkrieg
Ein 44-jähriger Deutscher mit Migrationshintergrund (Herr M.) leidet nach Ansicht seiner Ärzte an einer Depression mit psychotischen Symptomen (ICD 10: F32.3). Er habe Schuldgefühlen, höre schreiende Frauen und sehe brennende Kinder. Mir berichtet er, dass sein Vater früh verstarb. Mutter gab ihn 5jährig zum Onkel und ging nach Deutschland. Er litt unter diesem Onkel und dessen Söhnen, für die er u.a. die Schuhe putzen musste.
Eine triebunterdrückende Erziehung konnte ich jedoch nicht feststellen. Herr M. hatte keine Erziehung, die von Onanieverbot und Kastrationsdrohung (Freuds „Ödipuskomplex“) gekennzeichnet war, sondern seine Kindheit war eher von Vernachlässigung geprägt. Das Verhalten seiner Eltern ist selbst eher durch Triebdurchbrüche, wie Aggressionen und Alkoholmissbrauch, gekennzeichnet und es war den Eltern mehr oder weniger gleichgültig, ob ihre Kinder Triebbeherrschung erlernen.
Seine Mutter holte ihn nach Berlin, als er die 1. Schulklasse besuchte, die er dann hier wiederholen musste. Der intelligente Junge erreichte keinen Schulabschluss und eröffnete 18-jährig ein Cafe, mit dem er seinen Lebensunterhalt bestritt.
Diese schulisch-berufliche Entwicklung von männlichen Kindern mit Migrationshintergrund sehe ich oft. Die Kinder aus eingewanderten Familien, besonders mit moslemischem Glaubenshintergrund, sind in der Schule eher triebuntersteuert, fallen insbesondere durch aggressives Verhalten den Mitschülerinnen und Lehrerinnen gegenüber auf, können sich auch während des Unterrichts nicht beherrschen, konzentrieren sich nicht und machen eine Entwicklung zum Leistungsversager. Ganz anders entwickeln sich häufig die Mädchen aus diesen Familien.
Der sportliche, kräftige junge Mann ist keinesfalls aggressionsgehemmt, sondern aggressiv durchsetzungsfähig und bietet den aus einem anderen Land eingewanderten Schutzgelderpressern Paroli, er zahlt kein Schutzgeld. Zur Warnung wird ihm ein Schuss in den Fuß versetzt. Nach der Heilung verlässt er 20-jährig Deutschland und geht in seine europäische Heimat, wo er seinen „Wehrdienst“ macht und sofort in den Kriegseinsatz kommt. Es herrscht Bürgerkrieg. Im Häuserkampf tötet er einige Feinde. Auch an Vergewaltigungen von Frauen beteiligt er sich, dies sei ein Gruppenzwang gewesen. Eines Tages fährt er mit seiner Einheit, die in 3 Lastwagen passt, in feindliches Gebiet in einem anderen Stadtbezirk, wo die Bewaffneten etwa 100 Personen zusammentreiben. Die Männer der gegnerischen Zivilisten werden in den nahe gelegenen Wald abgeführt, um dort erschossen zu werden, die zurückgebliebenen Frauen, Kinder und Alten werden bei lebendigem Leib vor Zuschauern angezündet, verbrannt, erschossen und verscharrt. Kurze Zeit darauf desertiert er, besorgt sich einen neuen Pass mit etwas anderem Namen und kehrt nach nicht ganz einem Jahr zurück nach Berlin zu seiner Mutter. Hier treten Schuldgefühle auf, er schläft schlecht, die Bilder der brennenden Kinder lassen ihn nicht los, er hört die Schreie der Kinder und der Frauen. Er traut sich nicht aus der Wohnung, hat in der Öffentlichkeit Angst, befürchtet überfallen zu werden. Er besorgt sich Drogen und beteiligt sich am Drogenhandel. Er eröffnet eine Videothek und später eine Diskothek, für die er eine Freundin als Geschäftsführerin einsetzt. Die Diskothek schließt er bald wieder. Seine Verfolgungsängste bestehen weiter, er sieht die schreienden Kinder, die er angezündet hat, und Erinnerung an die jammernden Frauen setzt ein. Auf Anraten eines Rechtsanwalts geht er etwa 10 Jahre nach seiner Rückkehr zum Psychiater. Er wird antidepressiv medikamentös behandelt. Es wird eine 2-jährige tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie für erforderlich gehalten, woraufhin er die Psychotherapeutin wechselt. 40 Stunden Psychotherapie werden genehmigt.
Der herrschenden Theorie folgend, dürfte er gar keine Schuldgefühle und Depressionen wegen seiner Kriegsverbrechen haben, denn er konnte mit Erlaubnis seines Vorgesetzten ungehemmt aggressive und sexuelle Impulse ausleben, Frauen vergewaltigen und Kinder verbrennen und erschießen. Auch nach diesen Taten, die inzwischen 16 Jahre zurück liegen, wurde er nie deswegen angeklagt und natürlich auch nicht verurteilt, es wurden ihm also keinerlei Vorwürfe gemacht. Die Ärzte diagnostizieren bei ihm jedoch eine Depression mit Verfolgungswahn und Halluzinationen. Der Täter grausamer Handlungen, deren Unmenschlichkeit offensichtlich zu Schuldgefühlen beim Täter führt, wird von der Medizin quasi gleich gesetzt mit einem Depressiven, der als Folge belastender Opfererfahrungen ähnliche Symptome haben könnte. Er entwickelt Verfolgungsängste, die psychodynamisch als Projektion seiner Selbstbestrafungswünsche gedeutet werden können, und wagt sich aus Angst vor Vergeltung nicht mehr aus der Wohnung. Umgangssprachlich: das Schuldgefühl führt zur Angst vor Rache, so dass er außerhalb seiner Wohnung Rächer vermutet. Die behandelnden Ärzte erwähnen auch nicht den Alkohol- und Drogenmissbrauch, den er seit seiner Rückkehr betreibt. Sie behandeln ihn medikamentös und psychotherapeutisch.
Die Suchtproblematik ist offensichtlich weiterhin aktuell. Herr S. berichtet mir über seinen Mittelmissbrauch nach Rückkehr aus dem Kriegsgebiet in Zusammenhang mit seinen Verfolgungsängsten beim Verlassen der Wohnung, gibt jedoch an, nunmehr lediglich die ärztlich verordnete Medikation einzunehmen. Als während des Gesprächs mit mir starke Kopfschmerzen auftreten, gegen die ich keine Mittel zur Verfügung habe, holt er aus seiner Hosentasche Diazepam-Tabletten hervor, die er bei Kopfschmerzen nehme. Offensichtlich besteht also auch aktuell ein Missbrauch von Beruhigungsmitteln, den seine behandelnden Ärzte in ihren Attesten nicht erwähnen. Er berichtet mir auf Nachfrage, dass er im Bürgerkrieg zunächst nicht schießen wollte. Sein Vorgesetzter habe ihm daraufhin mit einem Schlag des Gewehrkolbens womöglich mehrere Mittelhandknochen gebrochen. In ärztliche Behandlung habe er sich nicht begeben dürfen. Eine Narbe im Bereich der rechten Stirn erklärte er mit einem tatsächlichen Überfall nach Rückkehr nach Deutschland, den er jedoch den Schutzgelderpressern (die einer anderen Ethnie angehören als seine Kriegsopfer) zuordnet: er sei plötzlich von einer Gruppe Unbekannter angegriffen worden, einer habe ihm einen Porzellanaschenbecher auf den Kopf geschlagen, ein anderer habe ihm einen Stich in den rechten Bizeps versetzt, dann sei die Gruppe geflüchtet. Diese tatsächlichen Erfahrungen könnten seine Verfolgungsängste möglicherweise verstärkt haben. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass er zum Gesprächszeitpunkt weiterhin bei seiner Mutter wohnt, die ihn seit der Kriegsrückkehr versorgt und Mitleid mit ihm hat.
3. Die Abwehr des schlechten Gewissens
3.1. Die individuelle Abwehr des Schuldgefühls durch den Täter, die Schuldprojektion
Schwere Verbrechen belasten das natürliche Gewissen des psychisch gesunden Täters und führen naturgesetzlich zu Schuldgefühlen und Depressionen, was ich hier als die "gesunde Schuldreaktion" bezeichne. Der unbestrafte Täter empfindet schlechtes Gewissen bzw. Schuld und versucht im ersten Akt, seine Schuld durch Verdrängung abzuwehren. Er wehrt nicht wie der Neurotiker tabuisierte Triebimpulse und die mit ihnen aufgrund der Kastrationsdrohung verknüpfe Angst ab, sondern das aus dem Vollzug einer Tötungshandlung resultierende Schuldgefühl.
Es gibt einige evolutionär-genetisch präformierte Gefühlsqualitäten, wie Angst, sexuelles Lustgefühl oder Glücksgefühle, die eine körperlich-biochemische Grundlage haben, und zu diesen rechne ich auch das schlechte Gewissen/Schuldgefühl. Unangenehme Gefühle werden gern durch von Freud beschriebene Abwehrvorgänge von der Bewusstwerdung ferngehalten. Der bevorzugte Abwehrmechanismus bei derartigen nicht neurotisch gehemmten, sondern Triebdurchbrüche vollziehenden Tätern ist die Schuldprojektion, was bereits von Staub und Alexander (Staub & Alexander 1928) beschrieben wurde. Dies sehe ich auch häufig bei Straftätern mit anderen Delikten.
Der Täter meint, das Opfer trage die Schuld an seiner Tat, beispielsweise: meine Mutter provozierte mich, da musste ich zuschlagen; meine Frau schrieh, da musste ich zudrücken (sie würgen); ich wurde angegriffen und musste mich verteidigen.
Oder ein Dritter trägt die Schuld: mein Mann gibt mir zu wenig Haushaltsgeld, deshalb musste ich stehlen.
Oder das Objekt hat Schuld: die Banane lag da so einladend in der Auslage, deshalb musste ich zugreifen.
Oder ein Begleitumstand ist schuld: der Alkohol.
Derartige Schuldprojektionen sind oft "erfolgreich". Können sie allerdings – z.B. aufgrund der Reaktion der Angehörigen - nicht mehr aufrecht erhalten werden, stellen sich psychosomatische Beschwerden ein (z.B. Bluthochdruck, Herzbeschwerden oder Kopfschmerzen) oder psychische Beschwerden wie Depressionen (Schlafstörungen, traurige Verstimmung, Konzentrationsstörungen usw.). Eine derartige Symptomatik wird häufig auch dann manifest, wenn die Tat ans "Tageslicht" kommt, wenn beispielsweise ermittelt wird und der Täter eine Bestrafung befürchtet (was in meinem Fallbeispiel nicht so war).
Das Beispiel habe ich auch deshalb ausgewählt, weil hier die Gräueltaten persönlich ausgeführt wurden. Dies erfolgte zwar auf Befehl oder als "Gruppenzwang", der natürlichen Schuldreaktion ist dies jedoch sozusagen "gleichgültig". Die Abwehroperation des Täters, er habe dies gar nicht gewollt, sondern es sei ihm befohlen worden (Schuldprojektion), gilt nur im Ich (Freud), das sich hier auf das Über-Ich berufen kann. Entscheidend ist jedoch die Bewertung des Unbewussten, die biologisch ist und ein genetisches Erbe der Evolution darstellt. Der Täter hat die Tötungshandlungen vollzogen, selbst optisch und akustisch mit seinen Sinnen wahrgenommen und im Gedächtnis gespeichert. Abwehroperationen des Ichs (z.B. Schuldprojektion) können zwar möglicherweise die Bewusstwerdung des schlechten Gewissens verhindern, nicht jedoch das Wissen um die Tat löschen. Dieses verbleibt unbewusst im Gedächtnis und führt später zu Erinnerungen, die spontan auftreten können. Hierbei handelt es sich nicht um Wahrnehmungsstörungen, wie in diesem Fall von den behandelnden Ärzten so interpretiert. Auch die Kriterien des Wahns, dass es sich um ein Fehlurteil handeln solle, von dem der Betreffende überzeugt ist, sind hier nicht erfüllt, denn Rachegefühle und –aktionen der überlebenden Angehörigen wären durchaus denkbar.
Der Abwehrmechanismus der Schuldprojektion setzt voraus, dass die Tat wahrgenommen wurde.
Effektiver wäre jedoch ein Abwehrmechanismus, der die Wahrnehmung der Tat vermeidet (s.u.).
Eine zusätzliche Methode zur Abwehr des natürlichen Schuldgefühls ist im Übrigen nach meinen Erfahrungen auch oft die Einnahme psychisch wirksamer Mittel (z.B. Alkohol) des Tatausführenden. Diese Methode wird individuell sehr häufig von Tätern mit Impulsdurchbrüchen verwendet, sie wurde aber Kriegsberichten zufolge kollektiv auch bei Frontsoldaten eingesetzt.
3.2. Die kollektive Abwehr des Schuldgefühls
Staatliche Propaganda, die den zukünftigen Kriegsgegner herabsetzt, zum Untermenschen stempelt und als minderwertig bewertet, ist wohl jedem Leser sehr gut bekannt und muss hier nicht ausführlich begründet werden. Dies wäre eine zeitlich vorverlagerte kollektive Schuldprojektion. Jede Gewalt anwendende Gesellschaft ist stets bemüht, den Angegriffenen als Verursacher des Angriffs darzustellen.
Die Geschichtsschreibung im Nachhinein besteht mehr oder weniger dann darin, dass der Sieger eines Krieges den Verlierer als Verursacher (Schuldigen) abstempelt, dies gehört zur Definitionsmacht des Siegers, an die wir uns gewöhnt haben. Es handelt sich jedoch psychodynamisch betrachtet um eine kollektive Abwehr des Schuldgefühls der Sieger, die selbstverständlich im Ergebnis mehr, effektiver oder besser gemordet haben, sonst hätten sie ja nicht den Sieg errungen.
4. Der biologische Sinn der Schuldreaktion
4.1. Die evolutionäre Herkunft der physiologischen Schuldreaktion
Ich beantworte zunächst die naheliegende Frage, in welchen Fällen die natürliche oder "physiologische“ Schuldreaktion als biologisch sinnvolle Reaktion ihre Berechtigung hat. Sie sollte einen evolutionären Sinn haben, wenn sie biologisch verankert und genetisch fixiert ist.
Bei Tötungshandlungen kann man bereits im Tierreich im Rivalenkampf eine Beißhemmung beobachten, die das überlegene Tier reflektorisch an der Tötung des unterlegenen Rivalen hindert, wenn dieser die Kehle zum Biss anbietet (Beobachtungen von Konrad Lorenz und anderen Tierverhaltensforschern). Der Mensch ist nun mehr noch als das Tier in der Lage, reflektorisch auftretende Handlungsimpulse zu unterdrücken. Die Rechtsdogmatik berücksichtigt diese Hemmungsfähigkeit und begründet mit dieser den freien Willen als Voraussetzung des Strafrechts. Der Täter hat bis zur Tatausführung die Möglichkeit, den Handlungsimpuls zu unterdrücken. Diese Hemmungsmöglichkeit betrifft nun auch die Beißhemmung, die natürliche Hemmung, einen Artgenossen zu töten. Da alle Menschen biologisch einer Art angehören, würde dieser Reflex bei Übertreten der Beißhemmung bei der Tötung jedes Mitmenschen auftreten, unabhängig von dessen Hautfarbe oder Religion. Es hat zwar biologische Vorteile, wenn das stärkere Tier seine Gene durch den Geschlechtsakt, der dem Rivalenkampf folgt, vermehrt, aber es hat auch Vorteile für die Art, wenn das unterlegene Tier weiterhin einen Nutzen innerhalb einer Gemeinschaft erfüllen kann; vielleicht ist es geschickter im Bau von Verteidigungsanlagen oder hat einen besseren Geruchssinn zur Früherkennung von Feinden usw.. Bestimmte Fähigkeiten des im Rivalenkampf unterlegenen Tieres können für die Erhaltung der Art nützlich sein und deren Erhaltung nützen. Dieser Nutzen für das Überleben der Gemeinschaft, also deren genetischem Pool, wäre der evolutionäre Sinn dieser Beißhemmung. Um diese wirksam werden zu lassen, muss die Natur auch unangenehme Gefühle als "Strafen" für den Fall der Nichteinhaltung vorgesehen haben. Und diese "Strafe" bestände hier nicht in einem körperlichen Schmerz, sondern in einem seelischen Schmerz, der sich beim Menschen als Schuldgefühl oder schlechtes Gewissen zeigt, wenn er den Artgenossen, den "Bruder" im christlichen Sinn, tötet. Dieses Schuldgefühl ist also primär als Reflex auf die Übertretung der Beißhemmung vorhanden und nicht durch Erziehung erlernt.
Durch Erziehung kann das physiologische Schuldgefühl lediglich mit Handlungen verknüpft werden, die gesellschaftlich nicht gewollt sind wie zu Freunds Zeiten die Onanie oder allgemein mit anderen einer gesellschaftlichen "Zensur" unterliegenden Verhaltensweisen. Diesen Mechanismus hat Pawlow bereits mit seinem "bedingten" Reflex gezeigt, bei dem das Hungergefühl, gemessen am Speichelfluss des Hundes, anstatt mit dem Futterangebot mit einem Klingelton verknüpft wird. Bestimmte Gefühlsreaktionen, wie Hunger, Angst, sexuelle Lust oder auch Schuldgefühl, sind evolutionäres Erbe. Sie können lediglich durch Übung und Lernprozesse durch gesellschaftlich gewollte Bedingungen ausgelöst werden, die den natürlichen Auslöser des reaktiven Verhaltens (Nahrungsmangel, Anblick des Sexualobjekts usw.) gegen einen künstlichen austauschen.
4.2. Die tiefenpsychologische Folgerung: Schuldgefühle als Reaktion auf Mordwünsche
Ich habe eingangs bereits darauf hingewiesen, dass auch die Psychoanalyse den Grundsatz der religionsgeprägten Kulturen teilt, dass sich der Mensch im „Naturzustand“, der Kindheit der Menschheitsentwicklung (Morgan 1891), zunächst ungehemmt verhält und Triebsteuerung das Ergebnis eines Lernvorgangs sei. Triebbeherrschung wäre danach die Reaktion auf eine Gewaltandrohung oder Strafandrohung der Gemeinschaft (Gens), der Gesellschaft (staatliche Gesetze), Gottes (religiösen Gebote), oder des Vaters (Kastrationsdrohung). Es ist danach die Angst vor physischem (Körperstrafen, Geldstrafen) oder seelischem Schmerz (religiöse Strafängste), die den Menschen zur Einhaltung gesellschaftlicher Umgangsnormen bewegt.
Es bleibt mir bei der psychoanalytischen Betrachtungsweise allerdings völlig unklar, wie sich Angst (Schmerzvermeidung) in ein schlechtes Gewissen oder ein Schuldgefühl umwandeln soll.
Geständnisse, die unter Folter, wie im Mittelalter oder in Abu Graib, erlangt werden, haben gerichtlich keinen Bestand, weil das Individuum zur Schmerzvermeidung alles sagt, was der Folterer verlangt. Insoweit besteht weitgehend Einigkeit, dass Angst vor Schmerz zu Unterwerfung unter gesellschaftliche Gebote führt, aber der Bedrohte hat ja deshalb kein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil, der Sohn, der aufgrund der väterlichen Kastrationsdrohung auf Onanie oder den Wunsch nach Verkehr mit der Mutter verzichtet, erlebt Lustgefühl weiterhin als etwas Angenehmes und nicht als etwas Schlechtes, es sei denn, es handelt sich um eine moralisierende (religiöse) Erziehung, die angenehme Gefühle als Sünde definiert. Derartige Verbote und moralische Verknüpfungen sind widernatürlich und erzeugen im Kind Aggressionen, Hassgefühle und Todeswünsche auf den, der für so lustvolle Erlebnisse Strafe androht. Nach der hier von mir vorgestellten Theorie sind Schuldgefühle eine natürliche Folge von Tötungshandlungen an Mitmenschen. In Übereinstimmung mit der Psychoanalyse nehme auch ich an, dass das Unbewusste nun keinen Unterschied macht, ob ein Mord bereits tatsächlich oder nur in der Phantasie (sogenante "psychische Realität", Freud) begangen wurde. Die von mir postulierte physiologische Schuldreaktion kann also bereits auftreten, wenn das Unbewusste des Kindes den Mord am Vater als phantasierte Wunscherfüllung begangen hat und nicht erst nach Realisierung der Tat. Das neurotische Schuldgefühl des Kindes tritt also als Reaktion auf die Mordwünsche des bedrohten Kindes gegen den Aggressor (Vater) auf, der Lust mit Kastration (Schmerzzufügung, Erzeugung körperlichen Schadens) bestrafen will.
Aber dieses natürliche Schuldgefühl tritt auch beim Erwachsenen auf, der tatsächlich einen Menschen getötet hat. Und dies ist völlig unabhängig von einer Strafandrohung. Ob das Strafrecht diese Tötung als Mord bewertet oder Folge einer kleinen Unachtsamkeit im Straßenverkehr (zu schnelles Fahren, wobei ein Mensch totgefahren wird), ist für diese physiologische Schuldreaktion kein Maßstab. So fand ich bei einem Unternehmer, die einen anderen Menschen im Straßenverkehr getötet und dessen Ehefrau schwer verletzt hat ohne dafür bestraft zu werden, ebenfalls Schuldgefühl, depressive Verstimmung, Suizidimpulse bis zum erweiterten Suizid (Selbstmord unter Mitnahme seiner Kinder) und Angst, umgebracht zu werden. Auch der im Fallbericht ausführlich dargestellte Täter, der an der Verbrennung und Erschießung mehrerer Mitmenschen beteiligt war und anschließend schwere Verfolgungsängste hatte, hatte keine gesetzliche Strafandrohung zu befürchten. Die bewusstseinsnahe Abwehr von Schuldgefühlen durch Schuldprojektion (der Kriegsgener hat Schuld) ändert nichts an der inneren Dynamik der biologisch verankerten Schuldreaktion, die sich in schlechtem Gewissen, Erinnerungen an die Tatbilder und Selbstvorwürfen äußert, die auf andere, die ihm Vorwürfe machen könnten, projiziert werden, so dass Angst vor Überfällen auftritt, was medizinisch als paranoide Symptomatik interpretiert wird.
5. Folgerungen für die Entwicklung von Zivilisation
Nach meiner hier vorgestellten Hypothese hat der psychisch Gesunde eine angeborene Hemmung, einen Mitmenschen, egal welcher Staatszugehörigkeit oder Religionszugehörigkeit, zu töten und bedarf daher keines gesellschaftlichen, religiösen oder gesetzlichen Tötungsverbots. Im Krieg nun ist es die Aufgabe des Individuums, Mitmenschen anderer Staatsangehörigkeit zu töten. Dass dieser Tötungsakt ein schlechtes Gewissen hinterlässt, wird zwar anerkannt, seltsamer Weise muss der Wehrdienstverweigerer dies jedoch mit religiösen Motiven begründen, so als wenn dieses schlechte Gewissen nur Folge religiöser Erziehung sein könne. Der Normalmensch tötet demnach nach staatlicher Meinung grundsätzlich ohne Gewissensbisse. Aus meiner Sicht ist diese Unterstellung eine Missachtung des gesunden Denkens und Fühlens.
Kriegerische Auseinandersetzungen haben den Menschen schon immer begleitet, auch in der "Kindheit der Menschheit" (Morgan), in der der Ethnologe (im deutschen Sprachgebrauch der Anthropologe) Morgan auch eine Zeit der Barberei annimmt, in der der Mitmensch nicht nur getötet wurde, sondern auch als Nahrungsmittel Verwendung fand. Riten und Religionen, die sich daraufhin nach Ansicht von Morgan, Freud u.a. entwickelten, haben nun nicht nur den Sinn, Erlösung zu finden, von einer übernatürlichen Macht für seine Sünden entschuldigt zu werden, sondern bedauerlicherweise auch den vorbeugenden Sinn, das Individuum für zukünftige Kriegshandlungen „fitter“ zu machen, indem der Gegner als nicht “art”zugehörig erniedrigt wird, was sich auf den Glauben (religiöse Ideologie) oder die Denkungsart (weltanschauliche Ideologie) beziehen kann.
Die naheliegende Methode zur Vermeidung der aus dem Mord am Artgenossen resultierenden physiologischen Schuldreaktion wäre neben diesen Methoden eine Umgehung ihrer Wahrnehmung. Das hatte ich oben bereits angedeutet.
5.1. Die Vermeidung der Tötung des Mitmenschen als Beginn der Zivilisation
Die Entwicklung der Zivilisation (Ackerbau und Viehzucht) kann als eine kollektive Vorverlagerung der Abwehr dieser physiologischen Schuldreaktion interpretiert werden. Anstatt in Zeiten von Nahrungsnot einen Artgenossen zu töten und kannibalistisch zu verspeisen, kann dem vorgebeugt werden durch die Einführung von Viehzucht und Ackerbau. Durch die Verbesserung des Nahrungsangebots konnten mehr Menschen ernährt werden, so dass Brudermord und nachfolgende Schuldreaktion durch den zivilisatorischen Fortschritt vermieden wurden. Die von mir postulierte angeborene Tötungshemmung mit physiologischer Schuldreaktion bei Übertretung wäre also der psychodynamische Grund für die Benutzung und Entwicklung des menschlichen Denkens. Die Erfindung von Viehzucht und Ackerbau wäre die entwicklungsgeschichliche Lösung der Frage, wie das Auftreten dieses Schuldgefühls vermieden werden könnte, und hätte die Fähigkeit des Menschen zum Vorausdenken gefördert. Der Konflikt zwischen dem Überlebenswunsch des Individuums (und seiner Erweiterung auf die Art, dem Brutpflegeverhalten, also der Nahrungsbeschaffung für die Familie) einerseits, der in Notzeiten die Tötung und Verspeisung des Bruders befiehlt, und der Tötungshemmung dem Artgenossen gegenüber andererseits, der als Futterkonkurrent und mögliche Beute in Betracht kommt, fördert das rationale Denken des Jägers, der als Lösung dieses Konflikts die Schonung der Jungtiere seiner Beute und deren Aufzucht zur zukünftigen Nahrungssicherung erdenkt und es damit ermöglicht, sich und seine Familie zu ernähren und gleichzeitig den konkurrierenden Mitmenschen zu schonen. Zivilisation in Form von vorwissenschaftlichen Problemlösungen, Ackerbau und Viehzucht hat in meiner Theorie einen natürlichen Ursprung. Nach meiner Theorie besteht der Antrieb für die Entwicklung von Zivilisation also darin, die Tötung des Mitmenschen bei der Konkurrenz um knappe Nahrungsreserven dadurch zu vermeiden, dass der Mensch mit Hilfe seines Gehirns Möglichkeiten entwickelt, die Produktion von Tier- und Pflanzennahrung zu steigern. Indem er Viehzucht und Ackerbau betreibt, vermeidet er Hungersituationen, in denen er aus der Not, überleben zu wollen, eventuell seinen Artgenossen, den “Bruder”, tötet und verspeist. Dies betrifft jedoch nicht nur Viehzucht und Ackerbau, sondern auch die Erfindung von Waffen und deren Weiterentwicklung.
5.2. Die Entwicklung der Waffentechnik
Der bewusste Grund für die Entwicklung von Fernwaffen war nicht die Kriegsabsicht, sondern die Sicherung der Ernährung, wobei hier nicht die kannibalistische Ernährung, die in Urzeiten in Hugersituationen denkbar war (Morgan 1877) und anthropologisch angenommen wird, gemeint ist, sondern zusätzlich zur eben benannten Konfliktlösung die Energieersparnis bei der Jagd nach Tiernahrung. Die Energieersparnis als Grund für die zivilisatorische Entwicklung des Menschen hat bereits Wilhelm Ostwald, der Begründer der Biochemie, hervorgehoben (Ostwald 1909). Der Mensch spart Energie, wenn er ein Tier mittels eines Speers erlegt, anstatt ihm hinterherzurennen, die Schusswaffe verringert diesen Energieaufwand weiterhin usw.. Bei technischen Entwicklungen geht es also in erster Linie um die Lösung des Problems, mit weniger Energieaufwand ein größeres Jagdergebnis zu erreichen. Es geht bei der Waffenentwicklung also um die bessere Sicherung der Ernährung, um das Überleben. Einerseits wird der Bedarf an Energie – und damit an Nahrung - durch den Einsatz von Waffen reduziert, andererseits wird durch Waffeneinsatz mehr Nahrung gewonnen. Dass das Ziel in immer größerer Entfernung getroffen werden kann, ist ein Nebeneffekt.
An der Entwicklung der Tötungswerkzeuge und –maschinen im Rahmen der Zivilisation des Menschen lässt sich allerdings als Begleitwirkung zeigen, dass die realen Qualen der Opfer immer weiter aus dem Blickfeld und dem Hörbereich des Täters entschwinden, was zur Schuldabwehr genutzt werden kann. Bereits der Speer vergrößert die Distanz zwischen Täter und Opfer erheblich, der mit Hilfe eines Bogens abgeschossene Pfeil vergrößert diese Distanz weiterhin, die Armbrust noch mehr, das Gewehr zusätzlich, die nicht zufällig von den Deutschen im Nationalsozialismus entwickelte Raketentechnik stellt die Vollendung dieser Entwicklung dar, da die Schreie der Opfer und die Ansicht der brennenden Menschen nun vollständig außerhalb des Wahrnehmungsbereichs des Täters liegen. Da der Täter die Folgen seiner Tat real nicht mehr wahrnimmt, ist diese Abwehroperation nahezu perfekt, denn das nicht Wahrgenommene kann selbst das Unbewusste nicht belasten. Was nicht wahrgenommen wurde, kann auch nicht durch Erinnerungen das Wohlbefinden des Täters beeinträchtigen.
Es bleibt allerdings ein Wissen um die Tat. Der Täter hat auch ein Interesse, den Erfolg seiner Tat zu kennen. Dafür werden andere technische Produkte entwickelt, die ihm inzwischen den Anblick der Tatfolgen aus weiter Entfernung über optische Geräte und Satteliten bis auf seinen Bildschirm am heimischen Herd liefern. Die Tat und deren Erfolg sind der Wahrnehmung entfremdet, vor allem die Gefühlsbeteiligung, der Affekt, ist optimal abgewehrt. Die Realität der Qualen menschlicher Opfer kommt lediglich virtuell auf einem Bildschirm zur Wahrnehmung und ist von einem Kunstprodukt (einem "Film") nicht mehr unterscheidbar.
5.3. Die Entwicklung von Religion
Das mit der Tötung des Mitmenschen einsetzende schlechte Gewissen versuchte der Urmensch mittels Ritualen zu bekämpfen. Freud, der sich dabei auch auf die Anthropologie beruft, sieht den Sinn dieser Rituale ganz richtig in der Wiedergutmachung, dem Ungeschehenmachen der Tat. Ich stimme ihm auch darin zu, dass sich aus diesen ursprünglichen Ritualen die Gottesreligionen entwickelt haben. Ein übernatürlicher Gott wird erfunden, um die böse Tat, die nicht rückgängig gemacht werden kann, zu verzeihen. Dem Täter, der tätige Reue zeigt, wird vergeben. Seine Strafe wird auch gerichtlich reduziert.
Allerdings folge ich Freud nicht in seiner Ansicht, dass der Vatermord durch die Gemeinschaft der Brüder ausschlaggebend war, sondern ich meine, es war der Brudermord, der Mord am Artgenossen, der die physiologische Schuldreaktion ausgelöst hat. Diese war also primär und sekundär ist die Erfindung der Götter, die derartiges widernatürliches Handeln verzeihen können und damit die Psyche entlasten.
5.4. Die Ideologisierung
Dies führt zu einem weiteren Mechanismus der vorverlagerten Abwehr von natürlichen Schuldgefühlen, der Ideologisierung. "Ideologisierung" dient aus der Sicht der Psychoanalyse u.a. der Abwehr von Minderwertigkeitsgefühl (Adler 1928). Beispielweise macht der sexuell Gehemmte aus der Not eine Tugend, indem er er sexuelle Enthaltsamkeit als Beweis besonderer Größe betrachtet, das Zöllibat des Mönchs erhebt ihn zu einem besseren Menschen. Gesellschaftlich lässt sich leicht belegen, dass der zukünftige Kriegsgegner, also das ins Auge gefasste Opfer von Brudermorden im biologischen Sinn (da alle Menschen einer Art angehören, betrifft die Tötungshemmung ja alle anderen Menschen unabhängig von deren religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen) stets durch Propaganda herabgesetzt oder zum Untermenschen stilisiert wird und die eigene Staatszugehörigkeit als besserwertig dargestellt wird. Auch diese Methode der Herabwürdigung Andersdenkender ist ein vorgelagerter Abwehrmechanismus gegen die zu erwartende physiologische Schuldreaktion der Soldaten, die die Tötungen der Kriegsgegner vornehmen sollen. Im Rahmen dieser vorgezogenen Abwehr des Schuldgefühls werden die Religionen oder auch weltanschauliche Ideologien benutzt, um das zu erwartende Schuldgefühl der Ausführenden zu verringern. Die für das Nachtatverhalten geschilderte Schuldprojektion auf das Opfer wird hier bereits vorgezogen.
5.5. Die militärische Hierarchie
Den gleichen Abwehreffekt hat die menschliche Zivilisation auch bereits vor der Entwicklung der Technik durch eine andere Methode erreicht, nämlich durch die Einführung der militärischen Hierarchie. Die Trennung von befehlsgebenden und befehlsausführenden Individuen hat psychische Vorteile für beide Seiten. Der Befehlsgeber muss die Tatfolgen nicht persönlich wahrnehmen (=vorverlagerte Abwehr) und der Befehlsempfänger, der vor Ort auf dem Schlachtfeld tätig ist, muss die Befehle nicht verantworten (=Schuldprojektion). Letzteres ist jedoch bei schweren Delikten wenig wirksam, wie mein Fallbeispiel zeigt. Dem Unbewussten ist die tatsächliche Wahrnehmung entscheidend und nicht die psychische Abwehr, die den tötenden Soldaten damit entschuldigt, dass er "nur" Ausführender des Willens der Gemeinschaft sei.
Grundsätzlich handelt es sich übrigens um den gleichen Vorgang externalisierter Abwehr, den jeder fleischessende Mensch vornimmt, der den Akt der Tötung des Tiers, das er verzehrt, gern einer Berufsgruppe (dem Schlächter) überlässt. Dieser Abwehrvorgang wird natürlich nicht aufgrund eines bewussten Entschlusses vorgenommen, sondern er dient psychodynamisch der Abwehr von Schuldgefühl.
6. Aktuelle Implikationen
Nach meiner Hypothese leidet der Mensch, der einen Mitmenschen tötet, an Schuldgefühlen, sozusagen seelischen "Schmerzen". Wird die Tötung vollendet, führt das zu dauerhaftem schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen. Der Täter wird von Erinnerungen an die Tat geplagt ("verfolgt"). Dies ist offensichtlich ein genetisch determinierter Talionsgrundsatz. Diese Hypothese ist nicht grundsätzlich neu, lediglich ihre Ableitung aus genetisch gespeichertem tierischem Reflexverhalten (Beißhemmung), das durch hormonelle Veränderungen Gefühle (hier Schuldgefühle) auslöst, das zu Projektionen (Verfolgung durch Rächer) führt. Schon Demokrit (460 v.Chr. bis 371 v.Chr., Vater der Atomtheorie) lehrte: "Wer Unrecht tut, ist unglücklicher als der, der Unrecht erleidet." (zitiert nach Popper 1984, 205). Die Überzeugung, der Mensch sei von Natur aus gut, wurde kulturübergreifend auch im alten China vertreten. Hauptvertreter dieser Lehre war hier Mengzi (372 v.Chr. bis 289 v.Chr.), der philosophische Nachfolger Konfuzius`.
Erst der Einfluss der monotheistischen Religionen führte zur Umkehrung dieses Grundsatzes: die Menschen werden nun grundsätzlich zu Sündern erklärt, die nicht mehr durch rechtes Tun, sondern durch den rechten Glauben glücklich werden sollen.
Selbst der moderne „Friedenseinsatz“ kann die seelische Problematik des an der Front kämpfenden und tötenden Individuums tatsächlich nicht beseitigen. Was ich an einem drastischen Fall des Bürgerkriegs exemplarisch gezeigt habe, kann auch für deutsche Soldaten, die inzwischen an vielen Orten der Welt eingesetzt werden, jederzeit real werden. Auch hier kann im Fall einer Tötung, besonders der Tötung eines Kindes oder einer Frau (eines "Zivilisten"), eine – wenn auch mildere – physiologische Schuldreaktion erwartet werden. Und dies beim primär psychisch gesunden Soldaten. Definitionen von Politikern, die beispielsweise den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan nicht als Kriegseinsatz bezeichnen wollen, spielen für die Psyche des betroffenen Soldaten gar keine Rolle. Fällt ihm die Öffentlichkeit im Heimatland auch noch in den Rücken, indem nicht die militärische Leistung, sondern die schicksalhafte Tötung von Zivilisten in den Vordergrund einer moralisierenden Diskussion gerückt wird, hat dies Auswirkungen auf deren ideologisierende Schuldabwehr, etwas Gutes mit dem Kriegseinsatz zu erreichen. Kann diese Schuldabwehr nicht aufrecht erhalten werden, wäre mit somatischen und psychischen Folgen bei den an Kriegseinsätzen beteiligten Soldaten zu rechnen.
7. Die Paradigmenwechsel
Zuletzt möchte ich noch einmal die Paradigmenwechsel betonen, der hier vorgeschlagen werden. Es ist nicht nur die physiologische Schuldreaktion, die als angeborene Reaktion auf die Tötung des Artgenossen angenommen wird und dem herrschendem Denken widerspricht, dass gesellschaftliche Gewaltausübung das Schuldgefühl des Menschen anerzogen habe. Ich spreche auch deshalb nicht nur vom Schuldgefühl, das nur einen Aspekt dieser genetisch programmierten Reaktion darstellt, sondern von der Schuldreaktion. Auch die Erinnerungen an das artwidrige Verhalten und der Rückzug aus der Gemeinschaft gehören zu dieser Reaktion. Der weitere Paradigmenwechsel betrifft die Evolutionstheorie. Diese geht davon aus, das die Selektion am Individuum ansetzt, das überlebt (positive Selektion) oder untergeht, gefressen wird oder verhungert (negative Selektion). Lediglich Dawkins und seine Schüler (vor allem Susan Blackmoore) vertreten die Ansicht, dass die Selektion am Gen ansetze (Dawkins 1976). Ich habe an anderer Stelle begründet, dass die Selektion artübergreifend an der Eigenschaft der Lebenden Systeme ansetzt, beim Jäger und bei seiner Beute sei beispielsweise die Eigenschaft der Bewegungsschnelligkeit überlebensnotwendig, das langsamere Beutetier werde gefressen, aber der langsame Jäger verhungere. Der Mensch ist ein in Gruppen lebendes Wesen, und hier ist der Ansatzpunkt für die Selektion auch dieses Kollektiv, also das Lebende System höherer Ordnung. Die physiologische Schuldreaktion und andere kollektive Fähigkeiten, wie die gemeinsame Sprache (Zimmerman 2008), stellen einen Selektionsvorteil für das Lebende System höherer Ordnung dar, nicht für das Individiduum. Ich rege also auch einen Paradigmenwechsel der gängigen Evolutionstheorie an, indem ich hier als Begründung für die angeborene physiologische Schuldreaktion ihren Überlebensvorteil für die konkurrierende Gruppe annehme, deren Mitglieder sich - allgemein formuliert - gemeinschaftsfördernd verhalten. Letztlich geht es um die Begründung menschlicher Zivilisation. Diese ist nicht aus der Errichtung eines religiös begründeten Herrschaftssystems, das auf der Angst der Menschen vor Strafe beruht, entstanden, sondern Zivilisation ist die naturgesetzliche Folge der Vermeidung der von mir hier postulierten Schuldreaktion. Diese hat den Menschen angeregt, sein Hirn zum vernünftigen Denken zu nutzen, um durch eine Verbesserung des Nahrungsangebots bei gleichzeitiger Energieersparnis den Brudermord zu vermeiden. Es handelt sich bei diesem Paradigmenwechsel also darum, den Anspruch der monotheistischen Religionen auf ihre Urheberschaft für Zivilisation zu ersetzen durch eine vernunftbegründete Erklärung im Sinne der von Kant eingeleiteten wissenschaftlichen Aufklärung.
Rudi Zimmerman, im Juli 2009
Literatur:
Hobbes, Thomas: Leviathan. Der Urzustand des Menschen. 1651. Morgan, Lewis H.: Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barberei zur Zivilisation. Dietz. Stuttgart Berlin. 1891 (Original 1877) Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Dietz Verlag Berlin. 1970. (Original 1884) Lorenz, Konrad: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. Piper. München.1973. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Goldmann-Taschenbuch. 1983. ISBN 3442075564. (Original 1887) Ostwald, Wilhelm: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaften (Philosophisch-soziologische Bücherei, Band XVI). Verlag von Dr. Werner Klinkhardt. Leipzig. 1909. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. In: Studienausgabe Band IX, Seite 288 bis 444, S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main. ISBN 3108227092. Original 1912-1913. Freud, Sigmund: Das ökonomische Problem des Masochismus. Studienausgabe Band III. 1975. ISBN 3108227033. Seite 339 ff. (Original 1924) Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Studienausgabe Band IX. 1974. ISBN 3108227092. Seite 455 ff. (Original 1939) Reik, Theodor: Geständniszwag und Strafbedürfnis. In: Psychoanalyse und Justiz. Herausgegeben von Tilmann Moser. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1971. (Original 1925) Alexander, Franz und Staub, Hugo: Der Verbrecher und sein Richter. Ein psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen. In: Psychoanalyse und Justiz. Herausgegeben von Tilmann Moser. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1971. (Original 1928) Adler, Alfred: Über den nervösen Charakter. Fischer. Frankfurt am Main. 1972. ISBN 3436015881. (Original 1928) Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 1. und 2. Band. suhrkamp. Frankfurt am Main. 1976. Popper, Karl: Historische Bemerkungen zum Leib-Seele-Problem. In: Popper, Eccles: Das Ich und sein Gehirn. Piper & Co. Verlag. München Zürich. 1984. ISBN 3492024475 (Original 1977) Dawkins, R.: Das egoistische Gen. ISBN 3499196093. Original 1976: The Selfish Gene. Oxford University Press. Zimmerman, R.: Zivilisation als Fortsetzung der Evolution. ISBN 978-3000247019. Berlin. 2008 |